
Spätestens seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, sind allgemeinbildende Schulen gesetzlich dazu verpflichtet, auch Schüler*innen mit einer Behinderung aufzunehmen. 15 Jahre später sieht die Situation bundesweit ernüchternd aus, obwohl sich manche Bundesländer ernsthaft um die Inklusion bemühen.
Im Jahr 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich verpflichtet, Schüler*innen mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. In den letzten Jahren gab es in vielen Bundesländern Bestrebungen, Schulen inklusiver auszurichten. Allerdings führt das Leistungsprinzip des gegliederten deutschen Schulsystems in der Praxis dazu, dass die Inklusion von Kinder mit Behinderung an allgemeinbildenden Schulen noch eher die Ausnahme darstellt.
Regionale Unterschiede
Es gibt Bundesländer, die die UN-BRK ernst nehmen und mittlerweile umdenken: Bremen, Schleswig-Holstein und Berlin haben einen vergleichsweise hohen Anteil an Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die inklusiv beschult werden. In diesen Bundesländern hat sich das Schulsystem in den letzten Jahren auch auf struktureller Ebene verändert. Sonderpädagogische Lehrkräfte sind in diesen Bundesländern häufig an allgemeinbildenden Schulen im inklusiven Unterricht eingesetzt, und weniger an sonderpädagogischen Einrichtungen.
Länder wie Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern halten dagegen an den traditionellen Schulstrukturen fest und weisen eine deutlich höhere Exklusionsquote auf. Diese Quote gibt an, wie hoch der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die eine sonderpädagogische Bildungseinrichtung besuchen, also nicht inklusiv lernen (Klemm, 2022).
Es ist kein Zufall, dass in diesen Bundesländern eine rückläufige Entwicklung stattfindet. Im Vergleich zur letzten Erhebung aus dem Schuljahr 2008/09 werden weniger Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv beschult (Klemm, 2022). Inklusion scheint im Süden Deutschlands also bildungspolitisch nicht gewollt zu sein.
Gymnasien sind kaum von Inklusion betroffen
Große Unterschiede gibt es laut Klemm (2022) auch was die Schulform betrifft: Für die Inklusion müssen in der Sekundarstufe I häufig Gesamtschulen (43%) und Hauptschulen (15,6%) herhalten. An Gymnasien ist die Inklusion von Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderdarf selten ein Thema (6,7%). Dies ist insofern ungerecht, da Gymnasien über weitaus bessere personelle Ressourcen verfügen und auch neu zugewanderte Kinder und Jugendliche an Gymnasien kaum vertreten sind [1]. Die elitäre Stellung der Gymnasien im deutschen Schulsystem zeigt sich auch in ihrem Selbstverständnis: Gymnasien sollen traditionell die leistungsstärksten Schüler*innen aufnehmen, für Leistungsschwache – dazu gehören auch Menschen mit Behinderungen – ist da kein Platz. Paradox ist dabei: Gerade Gymnasien würden sich für die Inklusion eignen, da diese in der Praxis weniger mit problematischen Verhaltensweisen konfrontiert sind als beispielsweise Hauptschulen und Realschulen. Und auch umgekehrt könnten die Gymnasien profitieren, indem die Schüler*innen und Lehrkräfte lernen, dass Vielfalt auch eine Bereicherung sein kann.
Förderschule als Alternative
Die bloße Anwesenheit eines Kindes mit Behinderung in einer Regelklasse bewirkt allerdings nicht viel. Es benötigt eine gezielte Förderung, professionelle Unterstützung und ein pädagogisches Konzept, um Verschiedenheit im Unterricht produktiv mit der Klasse zu behandeln. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Inklusion Demotivation und Resignation mit sich bringt.
Zudem ist es vom Einzelfall abhängig, ob Inklusion gelingen kann. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Art des Förderbedarfs: Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“, die auch zahlenmäßig überproportional vertreten sind, werden auch besonders häufig inklusiv beschult. Dagegen werden Kinder mit anderen Behinderungsformen wie etwa kognitiven und mehrfachen Beeinträchtigungen selten inklusiv beschult, da sie eine sehr spezifische Förderung benötigen. Auch sonderpädagogische Bildungseinrichtungen sind in vielen Fällen die passendere Wahl für ein Kind mit Behinderung, da sie den Kindern einen geschützten Raum mit weniger Zeit- und Leistungsdruck bieten als der oftmals stressige und eng getaktete „normale“ Schulalltag. Viele Schüler*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen benötigen mehr Zeit, um sich mit schulischen Themen auf ihre Art und Weise auseinanderzusetzen. Diese Zeit haben die Kinder an sonderpädagogischen Bildungseinrichtungen.
Ein Blick in den Norden: Es geht auch anders
Insgesamt muss sich grundlegend etwas ändern, wenn die UN-BRK wirklich ernst genommen wird: Nicht die Kinder mit Förderbedarf sind die Ursache für die Überforderung des deutschen Bildungssystems, sondern die häufig unflexiblen Strukturen und Haltungen. Bisher wird weiterhin in vielen Bundesländern versucht, Menschen an die Gegebenheiten anzupassen, anstatt bestehende Strukturen zu hinterfragen und grundlegend zu verändern.
Wie es besser gehen kann, sieht man etwa in Finnland. Was viele nicht wissen, wenn es um das finnische Schulsystem geht: Vor vielen Jahren ähnelte das finnische Schulsystem einmal dem deutschen, es war sogar eine regelrechte „Kopie“ des deutschen Schulsystems. Es gab ein zweigliedriges Schulsystem, das aus Volksschulen und Gymnasien bestand. Ähnlich wie in Deutschland, wurde recht früh selektiert und zwischen vermeintlich „guten“ und „schlechten“ Schüler*innen aufgeteilt. Anfang der siebziger Jahre wurde jedoch eine große Schulreform durchgeführt, die anfangs auf Widerstand stieß. Vor allem von zwei Seiten wurden die Reform des Schulwesens mit großen Bedenken betrachtet, die sich auch im deutschen Diskurs widerspiegeln: Einerseits fürchteten Gymnasiallehrkräfte um die Herabsetzung ihres Berufsstandes, andererseits befürchtete die Elternschaft mit akademischem Hintergrund eine Leistungsnivellierung und damit eine Senkung des gesamten Bildungsniveaus. In den 1970er Jahren wurde das finnische Schulsystem schließlich reformiert, und das vorher mehrgliedrige Schulsystem wurde durch eine neunjährige „Schule für alle“ ersetzt. Vier Jahre nach dem Parlamentsbeschluss begann man im Jahre 1972 mit der praktischen Umsetzung der Reform. Auch wegen des Widerstandes dauerte es fast neun Jahre, bis das neue Schulsystem flächendeckend in Finnland eingeführt wurde: Die Umsetzung der Gemeinschaftsschulen begann im Norden Finnlands, wo die Bildungsungerechtigkeit in den meist ländlichen Regionen am gravierendsten war, und setzte sich schrittweise Richtung Süden fort. Erst im Jahre 1977 wurden letztendlich auch die Schulen in der Hauptstadtregion Helsinki in Gemeinschaftsschulen umgewandelt. Seitdem werden auch Schüler*innen mit Behinderung größtenteils inklusiv an allgemeinbildenden Schulen beschult, sonderpädagogische Bildungseinrichtungen wurden radikal abgebaut. Heute gelingt es Finnland, trotz der schwächeren Ergebnisse in der jüngsten PISA-Studie, sozial benachteiligte Schüler*innen und Kinder mit Förderbedarf Perspektiven im allgemeinbildenden Schulsystem zu bieten. Zugegebenermaßen: Finnland lässt sich aufgrund der Größe und Struktur des Landes schlecht mit Deutschland vergleichen. Allerdings macht das Beispiel Finnland Mut, dass eine ähnliche grundlegende Schulreform auch eines Tages in Deutschland möglich ist.
Literatur:
Klemm, Klaus (2021): Inklusion in Deutschlands Schulen. Entwicklungen – Erfahrungen – Erwartungen. Weinheim: Beltz Juventa
Klemm, K. (2022). Inklusion in Deutschlands Schulen: Eine bildungsstatistische Momentaufnahme 2020/21. Bertelsmann Stiftung. https://doi.org/10.11586/2022067
[1] https://www.zeit.de/2023/54/gymnasium-inklusion-integration-lehrkraeftemangel
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