Christopher Mihajlovic

Christopher Mihajlovic

Sport für alle – oder alle(s) für den Sport?

Sportunterricht an einer Realschule in Frankfurt. Alle Schüler*innen der Klasse 9b treten zum 100 Meter-Lauf an. Die Stimmung ist eher mäßig. Der Lehrer Thomas Klingelbeil hat eine Stoppuhr in der einen Hand, ein Notenheftchen mit Tabelle in der anderen Hand. Als die ersten Schüler*innen die Ziellinie durchqueren, hört man nur: „so das war ´ne Drei, das war ´ne Zwei, das ne Vier. Ok, die nächsten..“.

Dieses Beispiel stellt eine noch recht weit verbreitete Bewertungspraxis im Sportunterricht dar. Dabei sind sich Experten einig: Im Vordergrund des Sportunterrichts sollte die Freude an der Bewegung stehen – ohne unnötigen Leistungsdruck. An das Gefühl, schlechter zu sein als die anderen Kinder, daran erinnern sich auch viele Menschen mit Behinderung in ihrer Schulzeit. Besonders im Sportunterricht, wenn die motorischen Voraussetzungen eine besondere Rolle dabei spielen, ob die Teilhabe gelingt – oder eben nicht. Sport ist ein Unterrichtsfach, in dem die (Leistungs-)unterschiede über den Körper besonders deutlich werden. Somit birgt es ein besonderes Risiko, Menschen mit Behinderungen zu exkludieren.

Gesellschaftliche Körper- und Fitnessideale

Die Forschung zeigt, dass sportliche Höchstleistungen oft mit einem gesellschaftlich anerkannten Körperideal verknüpft sind, welches im inklusiven Unterricht an seine Grenzen stößt. Dies trifft allerdings nicht nur auf Kinder mit motorischen Einschränkungen zu. Das Problem ist: Viele Schüler*innen und Sportlehrkräfte orientieren sich an Prinzipien des außerschulischen (Wettkampf-)Sports mit einem einseitigen Fokus auf Leistungsoptimierung und dem Erreichen bestimmter Körper- und Fitnessideale. So ist das Erhalten und Verbessern der eigenen Fitness häufig an normierten Körpervorstellungen ausgerichtet, mit dem Ziel die verkörperte Leistungsfähigkeit zur Schau zu stellen. Im Zuge des stark boomenden Fitnesssports erscheint die Reduzierung des Körpers auf die gängigen Fitnessideale problematisch, da es nicht allen Menschen uneingeschränkt offensteht, diese propagierten Körperideale zu erreichen. Kurzum: Fitte und muskulöse Körper gelten heute als schön – allerdings gibt es wenige Menschen, die von Natur aus diesen Schönheitsidealen entsprechen. Ein kritischer und reflektierter Umgang mit gesellschaftlichen Körperidealen und normierten Leistungsanforderungen im Unterricht sind somit wichtig, damit auch mögliche Risiken des fitnessorientierten Sports deutlich werden.

Kognitive Teilhabebarrieren

Auf der anderen Seite wird dem Sportunterricht auch ein besonderes Inklusionspotenzial zugesprochen: Im Allgemeinen wird dies häufig darauf zurückgeführt, dass im Sport kognitive Fähigkeiten weniger im Vordergrund stehen als in Fächern wie Mathematik oder Deutsch. Der Deutsche Olympische Sportbund bewirbt den Sport in seiner überarbeiteten Strategie sogar als Inklusionsmotor[1] für gesellschaftliche Teilhabe. Kinder mit Lernschwächen, die dem Regelunterricht im Klassenzimmer beispielsweise aufgrund von Konzentrationsproblemen nicht folgen können, trumpfen in der Sporthalle groß auf. Das ist zumindest die Theorie. Tatsächlich spielen im Sport auch kognitive Aspekte eine wichtige Rolle, um an Spielen und Übungen teilnehmen zu können. Da wäre z.B. das Regelverständnis oder auch die Fähigkeit, richtige Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit treffen zu können. Fällt es einem Kind schwer, Spielregeln zu verstehen oder sich daran zu halten, so wird es auch problematisch sein, an einem Spiel teilhaben zu können. Viele wettkampforientierte Sportarten wie z.B. Fußball oder Handball sind zudem relativ schnell und technisch anspruchsvoll, auch hier liegen Herausforderungen für Kinder und Jugendliche mit kognitiven und motorischen Beeinträchtigungen. So kann sich das inklusive Potenzial des Sports, welches durchaus vorhanden ist, nicht entfalten.

Sich von Vorurteilen verabschieden

Inklusion ist ein gesamtgesellschaftliches Prinzip, es lässt sich nicht so einfach von oben verordnen. Die Herausforderung liegt darin, das Konzept der Inklusion auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen. Dies ist in erster Linie eine Frage der Haltung. Man sollte sich jedoch von dem Gedanken verabschieden, dass in (inklusiven) Schulen alle Kinder das gleiche Lernen müssen, und dies möglichst gemeinsam. Es geht also auch um den Abbau von Missverständnissen, die im Zuge der Diskussion um Inklusion entstanden sind. Natürlich müssen Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung stattfinden, um einen Austausch zu ermöglichen und somit inklusive Prozesse anzustoßen. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass das Lernen immer gemeinsam stattfinden muss. Viele Kinder mit einer Behinderung benötigen – zumindest phasenweise – einen geeigneten Rahmen, um ungestört im eigenen Tempo lernen zu können. Das Lernen mit 30 anderen Kindern im gleichen Klassenraum wird dabei eher als emotionaler Stress empfunden. Andere Kinder sind pflegebedürftig und benötigen spezifische Therapien, die im „normalen“ Schulalltag berücksichtigt werden müssen. In Bezug auf den Sportunterricht bedeutet dies, dass ein Umdenken stattfinden muss, besonders was das Thema Leistung angeht. Das Festhalten an normierten Leistungsanforderungen, etwa durch die Vergleichbarkeit von Leistungen in Form von tabellarischen Werten (z.B. in der Leichtathletik), ist in der Praxis noch weit verbreitet. Diese sehr enge Sicht des Leistungsbegriffs versperrt die Möglichkeit, den individuellen Prozess des Leistens zu erkennen, der über die motorischen Fähigkeit hinausgeht. Gleichzeitig birgt dieses Leistungsverständnis ein exklusives Potenzial für viele Schüler*innen, nicht nur für Kinder mit einer Behinderung. Dabei geht es beim Leisten vielmehr als nur um die Erfassung einer Momentaufnahme. Ist es nicht wichtiger zu „messen“, ob ein Kind versucht hat, sich anzustrengen und das persönlich Beste zu geben? Oder ob das Kind gelernt hat, andere im Sportunterricht zu unterstützen?

Um auch gesellschaftlich etablierte Körperideale zu hinterfragen, können Sportarten aus dem Behindertensport (z.B. Blindenfußball mit Augenklappe, Basketball im Rollstuhl) hilfreich sein. Den Körper als „behindert“ zu erleben, kann dazu beitragen, den eigenen Körper so zu akzeptieren wie er ist. Die Forschung zeigt, dass Selbsterfahrungen zudem dabei helfen können, Lehrkräfte und Schüler*innen ohne Behinderung besser für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren. Allerdings gibt es in der Praxis noch einige Hürden zu bewältigen: Dazu gehört der Abbau von (räumlichen) Barrieren, denn Sportplätze müssen barrierefrei zugänglich sein und entsprechende Kriterien erfüllen. Um die noch größere Barriere – die „Barriere im Kopf“ – zu überwinden, ist fachliche Expertise notwendig, etwa durch die Bildung von muliprofessionellen Klassenteams (mit sonderpädagogischen Lehrkräften) und qualifizierenden Fort- und Weiterbildungen.


[1] https://www.dosb.de/sonderseiten/news/news-detail/news/inklusionsmotor-sport

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