
Ein kalter, regnerischer Herbsttag an einer Realschule in Baden-Württemberg: Es ist 8 Uhr, die Tür eines Klassenzimmers wird aufgerissen und Lena stürmt hinaus in den Regen, rennt bis zum Pausenhof und setzt sich dort auf den Boden. Eine Lehrerin folgt ihr kurze Zeit später und versucht Lena davon zu überzeugen, wieder in das Klassenzimmer zurückzukehren. Nach einigen Minuten gelingt es ihr und Lena begleitet die Lehrerin wieder ins Klassenzimmer.
Lena ist ein 13-jähriges Mädchen mit Down-Syndrom und wird in der 6. Klasse einer Realschule inklusiv beschult. Immer wieder tendiert sie dazu, dem Unterricht zu entfliehen wenn es ihr einfach zu viel wird. Die Rahmenbedingungen an der Schule sind herausfordernd: Der Unterricht findet seit mehreren Jahren aufgrund von Umbaumaßnahmen in Containern statt, die sehr spärlich eingerichtet sind. Die Klassen bestehen in der Regel aus über 30 Schüler*innen, darunter einige mit Fluchthintergrund und geringen Deutschkenntnissen, sowie mehreren Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In der Klasse 6a werden insgesamt sechs Schüler*innen mit einer geistigen Behinderung phasenweise gemeinsam im Klassenverband unterrichtet, häufig aber auch getrennt vom Rest der Klasse durch eine sonderpädagogische Lehrkraft in einem separaten Raum gefördert.
Das Beispiel Lena wirft die Frage auf: Wer profitiert eigentlich von Inklusion, wenn die notwendigen Rahmenbedingungen fehlen? Zwar ist Inklusion durchaus bildungspolitisch gewollt, allerdings sind die notwendigen Ressourcen an vielen Schulen einfach nicht vorhanden. Dies betrifft insbesondere das Fehlen von qualifiziertem Personal und einer inklusiven und barrierearmen Schularchitektur.
Multiprofessionelle Teams
Etwa 2000 Kilometer weiter im Norden: Alltag an einer Grundschule im finnischen Helsinki. An diesem Tag sind vier Erwachsene für 22 Kinder da: Neben der Klassenlehrerin noch eine sonderpädagogische Lehrkraft, sowie zwei Schulbegleiterinnen. Die Klassenlehrerin und die sonderpädagogische Lehrkraft sind ein eingespieltes Team: Abwechselnd nehmen sie unterschiedliche Rollen im Unterricht ein. Zu Beginn der Stunde übernimmt die Klassenlehrerin das Kommando und teilt die Klasse in unterschiedliche Gruppen ein. Während der Arbeitsphase kümmern sich beide Lehrkräfte gleichermaßen um alle Kinder, sowohl mit und ohne Behinderung. Keines der Kinder in der Klasse weiß, wer einen Behinderung hat und wer nicht. Auch manche Lehrkräfte nicht. Nachdem die Kinder eine Stunde am Stück gearbeitet haben, übernimmt die sonderpädagogische Lehrkraft das Kommando und trommelt alle Schüler*innen zum Abschlussgespräch im Sitzkreis zusammen.
Forschungsergebnisse zeigen, dass die Kooperation zwischen Fachkräften unterschiedlicher Disziplinen eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer inklusiven Schul- und Unterrichtskultur ist. Im finnischen Schulalltag besteht das Schulpersonal aus sehr unterschiedlichen Professionen: Es setzt sich meist aus Klassen- und Fachlehrkräften, sonderpädagogischen Lehrkräften, Lern- und Berufsberatern (sogenannte „guidance counsellor“), Schulbegleitern, Schulpsychologen und Sozialarbeitern zusammen. An deutschen Regelschulen überwiegt dagegen häufig noch der Gedanke: Einzelkämpfer statt Teamplayer. Viele Lehrkräfte an Regelschulen planen den Unterricht lieber alleine als im Team mit anderen Kolleg*innen und haben wenig Interesse an einer Zusammenarbeit. Auch wenn viele Lehrkräfte der Teamarbeit generell positiv gegenüberstehen[1], findet Kooperation in der Praxis eher selten statt. Dies liegt einerseits an das über Jahrzehnte etablierte berufliche Selbstbild, aber auch an den immer komplexer werdenden Arbeitsanforderungen und mangelnden zeitlichen Ressourcen
Eine großes Herausforderung für das gemeinsame Lernen in Deutschland liegt zudem in den fehlenden Fachkräften. Zwei Lehrkräfte gleichzeitig für eine Klasse ist teuer, aber auch der Lehrermangel spielt eine Rolle: Sonderpädagogische Einrichtungen haben mit einem noch stärkerem Lehrermangel zu kämpfen als Regelschulen[2]. Dies hat auch Folgen für die Inklusion: Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung können häufig nur stundenweise in Inklusionsklassen aushelfen. Dabei benötigen viele Kinder mit einer Behinderung, die inklusiv beschult werden, eine verlässliche und fachlich kompetente Unterstützung im Schulalltag. In vielen Bundesländern ist die inklusive Beschulung nun sogar rückläufig: Eltern schicken ihre Kinder mit Behinderung immer häufiger wieder an Förderschulen, da sie dort besser aufgehoben sind (vgl. Klemm, 2022).
Inklusive Raum- und Lernkonzepte
Dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zur Schule gehen, ist in vielen anderen Ländern bereits der Normalfall. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Schularchitektur. Gemeint ist damit nicht nur ein barrierefreier Zugang zum Schulgebäude, wie etwa rollstuhlgerechte Auffahrrampen, Leitsysteme für blinde Menschen und barrierefreie Sanitäranlagen. Es geht vielmehr um ein Zusammenspiel zwischen Architektur und (inklusiver) Pädagogik. Deutlich wird dies im folgenden Beispiel einer Schulklasse in Helsinki: Während mehrere Kinder gemeinsam an einem Gruppentisch in ihren Büchern lesen, legt sich ein anderes zum Arbeiten auf den Boden. Ein weiteres Kind mit Down-Syndrom springt in einem Bällebad, welches im Raum nebenan steht. Auch im Schulflur stehen einige Tische, die von mehreren Kindern zum Arbeiten genutzt werden.
Die Forschung zeigt, dass die Raumstrukturen erfolgreicher inklusiver Schulen sich durch ihre Flexibilität auszeichnen, unterschiedliche Tätigkeiten und Sozialformen zur gleichen Zeit zulassen. So sollte es in allen Klassenräumen Lernumgebungen zum konzentrierten Arbeiten, Spielecken zum Spielen, Sofas zum Entspannen und Gruppentische für größere Gesprächsrunden geben. Zudem zeichnen sich die räumlichen Bedingungen bestenfalls durch eine gewisse Durchlässigkeit aus, die den Zugang zu anderen Gebäudeteilen und Räumen, wie etwa Lernnischen auf dem Flur, problemlos ermöglichen. Durch ein solches Raumkonzept ist es möglich, die Individualität der Lernenden in ihrem Lernprozess angemessen zu berücksichtigen. Beispiele, wie geeignete Raumkonzepte aussehen können, werden im Forschungsprojekt „Raum und Inklusion“[3] vorgestellt und geben Impulse für den Neu- und Umbau inklusiver Schulen.
Gleichzeitig ist es von Bedeutung, auch Begegnungen in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Dies kann in einer Klasse durch den Wechsel von eher individualisierten Arbeitsphasen zu bewusst gestalteten Versammlungen der Gesamtgruppe erreicht werden. In diesen Phasen der Gemeinsamkeit können Themen besprochen werden, die wirklich alle etwas angehen, etwa Schulausflüge oder besondere Aktionen in der Klasse. Zudem können auch Missverständnisse geklärt werden, die immer mal wieder im Schulalltag auftreten: Selbsterfahrungen – wie etwa die Simulation von „Behinderungen“ – können Schüler*innen ohne Behinderung dabei helfen, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung besser zu verstehen und ihnen gegenüber zu öffnen. Im inklusiven Unterricht muss es also vielmehr darum gehen, soziale Lernprozesse anzuregen, indem Begegnungen geschaffen werden – sowohl zwischen Schüler*innen als auch zwischen Erwachsenen. Finden diese Begegnungen gar nicht erst statt, besteht die Gefahr, dass bestimmte Rollenbilder nicht hinterfragt werden und Inklusion tatsächlich eine Vision bleibt. Das Deputatsstunden-Modell für Lehrkräfte in Deutschland scheint dabei eine professionelle Kooperation eher zu behindern[4]. Ein Blick in andere Länder zeigt, dass es besser geht: Feste Zeitfenster für die Kooperation von Lehrkräften sind eine Chance, eine neue Unterrichtsqualität zu ermöglichen. Internationale Vergleichsstudien zeigen auf, dass erfolgreiche Schulsystemen eine niedrigere wöchentliche Deputatsstundenzahl als Deutschland haben, zusätzlich zur Unterrichtszeit werden aber zusätzliche Tätigkeiten in den Arbeitsverträgen geregelt, wie etwa die Kooperationszeit unter Lehrkräften.
[1] https://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2016-02/hamburg-lehrer-schule-kommentare
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/lehrermangel-foerderschule-inklusion-1.6290048?reduced=true
[3] https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/produkte/details/34806-raum-und-inklusion.html
[4] https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/zeitfenster-fuer-kooperation-von-lehrkraeften-festlegen/
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